leonardo da vinci : der codex leicester

leonardos löchlein

zu einer bisher übersehenen stelle im codex leicester
(von eckhard siepmann, museum der dinge)

1 gothic leonardo

leonardo da vinci war zeitlebens fasziniert von dem fliessenden, sich auflösenden, zerrinnenden, verwesenden. täuschen wir uns, wenn wir eine verborgene tendenz zum gruftie-tum zu entdecken glauben? die menschen und die tiere, die "ihr leben durch den tod der der anderen gewinnen", sind für ihn "nur ein durchgang und kanal für die nahrung, eine herberge der toten, eine hülle der verwesung." (c. arr. 76 v.a) schon der anblick von flachs ruft in ihm die imagination von zerfall hervor: "der flachs ist dem tod und der verwesung der sterblichen geweiht: dem tod in netzen für vögel, tiere und fische, der verwesung in den leichentüchern, in welche an die toten hüllt, die dann begraben werden und in diesen leintüchern verwesen." damit nicht genug, der zerfall ergreift den flachs selbst: "er "fällt erst von seinen stengel ab, wenn er zu verfaulen und zu verwesen beginnt und darum sollte man aus ihm kränze und zierden für die leichenbegräbnisse machen." (l 72v) er schreckt auch vor dem zugriff auf die leiche selbst nicht zurück, die er zerlegt und seinem sezierenden blick unterwirft, und gibt sich im schutz von gleichnissen sadistischen phantasien hin: "auch wird man unzähligen ihre kleinen kinder nehmen, um sie dann zu schlachten und grässlich zu vierteilen (...) man wird ferner mit unbarmherzigen stockschlägen vile kinder ihren müttern entreissen und sie auf den boden werfen und dann zerstampfen." (c. arr. 145 r.a) den älteren geht es nicht viel besser. "man wird das blut aus dem zerrissenen fleisch strömen und über die äusseren teile der menschen rieseln sehen. über die menschen wird eine so grässliche krankheit kommen, dass sie mit den eigenen nägeln das fleisch zerreissen werden." (inst. de france 63 [15] v.)

seine visionen vom untergang der welt verbergen nur unvollkommen hinter ihrer vorgehaltenen teleologie die berauschung des fantasierenden ego. die menschen, die da an bäume gekrallt durch die luft liegen, die alles mitreissenden und ertränkenden fluten, die berstenden gebirge - sind das nicht projektionen, die aus innenräumen kommen? ich spreche nicht vom sich aufbäumenden unbewussten, keine sorge, sondern von einem stürmischen seelenkino, einem katarakt von bildern und ideen, einem endlosfilm, der in den militärischen und künstlerischen auftragsarbeiten (mit ausnahme vielleicht der anghari-schlacht) keinen raum, keine leinwand hat.

2 das nichts zwischen den dingen

vielleicht ist es so, dass leonardo mit diesen in zeichnungen und texten beschworenen untergängen die bilderfluten auflösen, zum verschwinden bringen will. dem würde der wechsel des tons entsprechen, mit dem er immer wieder in seinen schriften auf das nichts zurückkommt. wir beobachten ihn bei aushecken von hypotesen; er bläht seinen gegenstand auf ("unter den grossen dingen, die unter uns zu finden sind, ist das sein des nichts das grösste." tr. 9a) und lässt ihn wieder zusammenzurren ("im reich der natur ist das nichts nicht zu finden. es gehört zu den unmöglichen dingen, so dass es keinen sinn hat." (b.m. 131 r.), ist besorgt um die widersprüche, in die er sich verwickelt - es scheint, als sei der aufklärer von diesem thema verhext.

leonardo stöbert das nichts an den rändern zeitlicher und räumlicher erstreckungen auf.
zeit: die bestimmung des nichts "bezieht sich auf die dinge, die kein sein haben, und sein wesen herrscht im reich der zeit zwischen der vergangenheit und der zukunft, ohne etwas von der gegenwart zu besitzen." (b.m. 131 r.)
raum: heisst es zunächst: "da es (in der natur, e.s.) keine leere gibt, so verliert das nichts dort sein wesen, weil das ende eines dings immer der anfang eines anderen ist." (b.m.131 r.), so wird schon einige seiten weiter geltend gemacht: "das nichts hat eine fläche mit dem etwas gemeinsam, und das etwas hat eine fläche mit dem nichts gemeinsam, aber die oberfläche eines dings ist kein teil dieses dings. daraus folgert, dass die oberfläche des nichts (!, e.s.) nicht ein teil des nichts ist (...) eine oberfläche (ist) die gemeinsame grenze von zwei körpern, die nicht ineinander übergehen, und sie hat weder etwas von dem einen noch von dem anderen; denn wenn die oberfläche ein teil davon wäre, so hätte sie eine teilbare dicke, und da sie nicht teilbar ist, so scheidet das nichts diese körper voneinander." (b.m. 159 v.) Voilà, das nichts ist zwischen den dingen anwesend, aber leonardo nimmt diese gewagte these gleich wieder zurück: "im reich der elemente (...) gibt es nichts ohne körper, denn wo kein körper ist, da ist ein vakuum und im reich der elemente gibt es kein vakuum, weil es sofort von einem element ausgefüllt wird." (fogli b 31 v.) vielleicht darf man reümieren: für leonardo hat das nichts keine physikalische existenz, wohl aber als kategorie der anschauung.

im codex leicester ist vom nichts nicht die rede, aber es ist für die nichts-kundigen und leonardo-futuristen mehr als in jedem anderen manuskript überall präsent zwischen mond, licht und wasser. doch setzen wir für einen augenblick alle blühende spekulation beiseite, wenden wir uns entspannt der materialität der kommunikation zu: in unserem geliebten codex leicester entdecken wir eine schöne metapher für das nichts: auf dem blatt (nein, nein, ich verrate die stelle nicht, suchen sie selbst, aber nicht im buch, sondern im museum der dinge), ist ein winziges loch versteckt; dass dessen urheber die hand leonardos ist, steht außer frage. unser freund des nichts hat hier mit dem standbein des zirkels ein loch gestochen, um einen kreis zu ziehen.! hielten wir das blatt gen himmel, was uns nicht-milliardären verwehrt ist, so sähen wir durch es hindurch die wolken ziehen. wir ahnen in diesem augenblick vielleicht, was ein halbes jahrtausend zuvor sich als schicksal der vermessenen welt abzeichnen sollte, die das nichts nur ex negativo zu taxieren vermochte: "die leere entsteht, während die hoffnung stirbt." (h 48 v.)

o

wenn es einen menschen gibt, dessen lebenswerk als weitausgreifender hypertext bezeichnet werden kann, dann ist es, neben leibnitz und novalis, leonardo. unsere fantasie reicht nicht aus, uns seine homepage vorzustellen, wohl aber sein amüsement, wenn er beim gleiten durch die netze unvorbereitet (www.assoziations-blaster.de) auf folgende tiefsinnige anweisung für das sehen das nichts stossen würde: "mit offenen augen kann man das nichts nicht sehen, und mit geschlossenen augen sieht man schwarz. wenn man aber ein auge schliesst und eines offen lässt, dann sieht das auge, das geschlossen ist, das nichts."

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