leonardo da vinci : der codex leicester

die übersetzung der leonardo zitate vom italienischen ins deutsche hat marianne schneider vorgenommen. von ihr stammt der folgende text, der eine einführung in die gedankenwelt des leonardo darstellt.

der unbestechliche blick der leidenschaft

die gesetze der sichtbaren natur und auch die der unsichtbaren sind heute erforscht, theoretisch wissen wir alles. warum sollen wir also bei leonardo nachlesen, "wie es möglich ist, dass große steine vom wasser gewälzt werden"?
lesen wir trotzdem nach: "wisse, dass die steine vom wasser gewälzt werden, weil dieses entweder von beiden seiten um sie herum- oder über sie hinwegfließt; wenn das wasser den stein umfließt, dann kommt es nach diesem, sich schneidend, wieder zusammen und gräbt vor dem stein das aufgehäufte erdreich oder den sand weg, und wenn es den stein weit genug herausgeschält hat, dann kippt er von selbst vornüber. und wenn das wasser über ihn hinwegfließt, dann fällt es, nachdem es den stein überwunden hat, senkrecht hinunter, und durch die kraft seines aufschlagens dringt es von der oberfläche auf den grund des übrigen wassers und nagt und schwemmt weg, wobei es den stein aus seiner unterlage herausschält, so dass er auch in diesem fall von selbst vornüber kippt; und so geschieht es nach und nach, dass er einen ganzen fluss durchrollt. und wenn ein kleinerer stein vor ihm liegt, dann schält ihn das wasser in derselben reihenfolge heraus und macht dasselbe; und deshalb wälzen sich die steine im bett der dahinströmenden flüsse."
leonardos sätze führen unseren blick unter wasser und zeigen uns, was dort im einzelnen geschieht: etwas, das wir unter das phänomen erosion einzuordnen gewöhnt sind. aber er schildert im einzelnen und mit einem unterton des staunens, auf welche art und weise die sichtbare welt zusammengesetzt ist, was ihre bewegung, ihre veränderung ausmacht.

an vielen stellen seiner aufzeichnungen notiert er sich auch methoden für die betrachtung. lesen wir eine zur betrachtung des wassers: "wenn du alle gestalten der wellen und der bewegungen des wassers genau erkennen willst, dann schau in klares wasser von geringer tiefe, auf das die sonnenstrahlen fallen, und durch diese sonne wirst du alle schatten und alle lichter der genannten wellen und der dinge sehen, die dieses wasser mit sich führt." statt einer theoretischen methode führt leonardo eine bildsituation vor augen, in der alle einzelheiten so vergegenwärtigt sind, dass wir sie vor uns sehen. alles wird bis ins kleinste konkret und anschaulich. die schatten und die lichter oder die dunklen und die hellen stellen definieren die bilder der sich bewegenden und sich verändernden welt.

unter den anweisungen für den jungen maler lesen wir: "beobachte, wie sich jedes ding schlängelt, oder beobachte bei jedem ding, wenn du es gut kennenlernen und gut darstellen willst, die art von anmut, die ihm eigen ist." diese "eigene art von anmut jedes dings" hatte leonardo auf eine radikale weise immer im blick und ließ sie in alle seine werke eingehen: die unscheinbarste skizze am manuskriptrand ist ebenso von ihr geprägt wie jedes einzelne gemälde, das große wandbild des abendmahls und selbst die darstellungen der apokalyptischen katastrophen, der "diluvi": der wasserwirbel, die sich, jedes ding zerstückelnd und zermalmend, ineinander schlängeln, winden und drehen, bei deren anblick aber zugleich die grazie gelockten haars erkennbar bleibt. und wenn man noch einen schritt weiter wagen will, kann man in diesen bildern auch die zerstörerische macht der passion abgebildet sehen, und in der darstellung der " art von anmut", die "jedem ding eigen ist", eine zuneigung zur welt.

"alles kommt von allem, aus allem wird alles, alles endet in allem. anaxagoras." dieses zitat des vorsokratischen philosophen notierte sich leonardo ohne kommentar. aber er war einer der ersten, wenn nicht sogar der erste, dem plötzlich etwas gänzlich außergewöhnliches, nämlich eine einzelheit der sichtbaren welt ins auge fiel, beispielsweise die muschelschalen im gebirge. von einem derartigen detail ausgehend, begann er nachzuforschen und zu entdecken, daß das, was bis dahin gelehrt und geglaubt wurde, falsch war; und so verließ er den käfig des von der kirche und der offiziellen philosophie hochgehaltenen aristotelischen weltgebäudes, zu dessen rechfertigung die naturwissenschaft gedient hatte, ohne je einen blick auf die welt zu werfen.

doch der unermüdliche beobachter und aufzeichner der verschiedenartigsten einzelheiten verlor die einheit und den zusammenhang nicht aus dem auge und zeigt uns heute noch "das seltsame verhältnisspiel der dinge", bei dem eine welt der spiegel der anderen sein kann.

marianne schneider

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